Russischer Telegram-Kanal veröffentlicht internes Dokument des Bundes (2024)

Russland will einen Keil zwischen die westlichen Staaten treiben – etwa zwischen die Schweiz und die USA. Dazu dient möglicherweise auch ein Dokument zum Kriegsmaterialexport der Schweiz.

Russischer Telegram-Kanal veröffentlicht internes Dokument des Bundes (1)

Die Nachricht klingt beunruhigend: Ein internes Dokument des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) ist in einem prorussischen Telegram-Kanal aufgetaucht, wie die Tamedia-Zeitungen publik gemacht haben. Das Dokument ist vermutlich vom Frühjahr und beschreibt die Sprachregelung zu Kriegsmaterialexporten «mit Ukrainebezug».

Enthalten ist auch die als «vertraulich» gekennzeichnete Information, dass sich ein Ringtausch von Schützenpanzern abzeichne. Die Idee wäre laut den Angaben, dass Dänemark Piranha III aus Schweizer Produktion an ein baltisches Land liefern würde, «wahrscheinlich Lettland», heisst es im Dokument. Das baltische Land wiederum träte ähnliche Fahrzeuge aus den eigenen Beständen an die Ukraine ab.

Zwar ist das Dokument selbst nicht als «intern» oder «vertraulich» klassifiziert. Dennoch erscheint der Umstand beunruhigend, dass solche Unterlagen in prorussischen Kreisen auftauchen. Wie konnte das geschehen? Steckt dahinter gar ein Cyberangriff auf die Schweiz? Was beabsichtigen die Akteure mit ihrer Publikation? Um diesen Fragen nachzugehen, lohnt sich ein vertiefter Blick auf die Fakten.

Hinter der Publikation steht der prorussische Telegram-Kanal Joker DNR, der behauptet, das Dokument aus dem E-Mail-Postfach eines Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte gestohlen zu haben. «Dieses Dokument wurde von den amerikanischen Geheimdiensten, die auch die Schweizer ausspionieren, an die ukrainische Seite weitergeleitet», heisst es im Telegram-Post vom 8.August.

Gruppe führte mehrmals Aktionen gegen die Ukraine aus

Bei Joker DNR handelt es sich um eine angebliche Hacktivisten-Gruppe, welche im Oktober 2019 das erste Mal in Erscheinung getreten ist. Sie will die separatistischen Bewegungen in der Ostukraine unterstützen, was sich auch im Namen zeigt: Die Abkürzung DNR steht für die selbsternannte «Volksrepublik Donezk», welche im Frühjahr 2014 ausgerufen wurde, als der Krieg im Donbass begann.

Die Gruppe ist bisher als starke Unterstützerin des russischen Informationskriegs in der Ukraine in Erscheinung getreten, wie es in einer Analyse der Cybersicherheitsfirma Recorded Future heisst. Ihre Publikationen zielen darauf ab, die ukrainische Führung und die Armee zu diskreditieren. Die Gruppe hat in der Vergangenheit immer wieder Aktionen gegen die ukrainischen Streitkräfte durchgeführt und auch sensitive militärische Informationen publiziert.

Die Behauptung, das Seco-Dokument stamme aus dem E-Mail-Postfach eines ukrainischen Armeeangehörigen, klingt deshalb plausibel. In einem Video, das Joker DNR ebenfalls publiziert hat, ist einzig zu sehen, wie die E-Mail in einem Postfach des ukrainischen Online-Portals «i.ua» geöffnet wird, welche die Datei des Bundes enthält.

Weder Empfänger noch Absender der E-Mail geben einen Hinweis auf die Umstände, welchen Weg das Seco-Dokument genommen hat. Die E-Mail selbst enthält keinen Text. Einen Hinweis auf amerikanische Geheimdienste als Quelle, wie Joker DNR behauptet, gibt es nicht. Wären die Akteure hinter dem Telegram-Kanal im Besitz schriftlicher Belege gewesen, zum Beispiel in Form einer E-Mail, so hätten sie diese bestimmt veröffentlicht. Nicht einmal ein Bezug zur ukrainischen Armee ist in dem Video zu erkennen.

Dass das Schweizer Dokument durch eine amerikanische Spionageaktion in der Ukraine gelandet ist, erscheint wenig plausibel. Die Sprachregelung des Bundes muss breit gestreut worden sein, um eine Wirkung entfalten zu können. In Teilen ist der Text gar auf Englisch verfasst – möglicherweise für ausländisches Botschaftspersonal. Eine eigentliche Klassifizierung des Dokuments gibt es nicht.

Bei einem so grossen Empfängerkreis ist gut vorstellbar, dass das Dokument zum Beispiel weitergegeben worden ist und ohne eine Spionageaktion im engeren Sinne an ausländische Partner oder an ukrainische Diplomaten gelangt ist.

Die Behauptung von Joker DNR, das Dokument stamme aus einer amerikanischen Spionageoperation, scheint deshalb vielmehr dazu zu dienen, Misstrauen zwischen befreundeten westlichen Staaten zu schüren – und das populäre russische Narrativ des moralisch verrotteten und gespaltenen Westens zu befördern.

Dass Joker DNR mit der Publikation die Schweiz mit ihrem Bekenntnis zur Neutralität diskreditieren wollte, dürfte kein vorrangiges Ziel gewesen sein. Kritik am Verhalten der Schweiz ist im Telegram-Post nicht ersichtlich – und das Dokument scheint inhaltlich dafür auch nicht besonders gut geeignet zu sein.

Erstaunlicherweise wird auch der geplante Ringtausch von Militärgerät von Dänemark über Lettland in die Ukraine nicht besonders erwähnt, obwohl diese Pläne bislang nicht öffentlich bekannt gewesen waren. Joker DNR scheint deshalb nicht die Absicht gehabt zu haben, mit seiner Publikation dieses Vorhaben – falls noch immer aktuell – zu torpedieren.

Die Ukrainer sollen sich unsicher fühlen

Die Aktion von Joker DNR dürfte sich in erster Linie an ein Publikum in der Ukraine und in Russland gerichtet haben. Die Publikation von offiziellen Dokumenten aus der Schweiz erweckt den Eindruck, dass mächtige Hacker gegen die Ukraine am Werk sind. Entsprechend heisst es auch im Telegram-Post: «Wir haben Zugang zu all ihren E-Mails, Apps und Geräten.» Die Ukrainer sollen sich unsicher fühlen.

Gleichzeitig dienen solche Meldungen auch dem heimischen Publikum: Russen und prorussische Separatisten in der Ostukraine sollen in ihrer Überzeugung bestärkt werden, dass die USA unzuverlässig und die eigenen Kräfte überlegen sind.

Dass die Politik und das Image der Schweiz von dieser Informationsoperation betroffen sind, war wohl nicht das primäre Ziel von Joker DNR. Ungelegen kommt es diesen Akteuren aber nicht. Die Schweiz war bereits im Juni ins Visier der angeblichen Hacktivisten-Gruppe NoName057(16) geraten, als diese Schweizer Websites vorübergehend lahmlegte. Grund war eine Rede des ukrainischen Präsidenten Selenski im Parlament.

Seit dem Beginn der russischen Invasion vor anderthalb Jahren haben solche Gruppen, die angeblich aus prorussischen Aktivisten bestehen, Konjunktur. Welche Verbindungen sie zum russischen Staat haben, ist unklar. Belege für eine direkte Steuerung liegen bis anhin nicht vor.

Allerdings ist angesichts der Ressourcen dieser Gruppen teilweise auch nicht anzunehmen, dass sie völlig unabhängig und rein aktivistisch motiviert handeln. Zumindest ein gelegentlicher punktueller Austausch ist gut vorstellbar. Bei gewissen Gruppen gibt es dafür auch Hinweise. Recorded Future schreibt in ihrem Bericht, dass Joker DNR seine Aktivitäten «möglicherweise in Abstimmung mit dem russischen Staat» ausführe.

Der Kreml will den Westen spalten

Der Kreml bedient gerne antiamerikanische Vorurteile; unter anderem, Washington interessiere sich nicht für die Souveränität seiner Partner und spioniere sogar die besten Freunde aus. Die Basis dieses Narrativs bilden die Plattform Wikileaks des australischen Öffentlichkeitsaktivisten Julian Assange und insbesondere die Snowden-Enthüllungen beim US-Abwehrdienst NSA.

Edward Snowden, damals selbst Teil der US-Nachrichtendienst-Community, übergab 2013 einem britischen Journalisten Geheimdokumente, die das Ausmass der amerikanischen Überwachungsmassnahmen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus aufzeigten. Der Whistleblower lebt heute in Moskau. Seinen Unterstützern werden Verbindungen zu russischen Nachrichtendiensten nachgesagt, ebenso dem Umfeld von Assange.

Wie weit Joker DNR mit der Publikation des Seco-Dokumentes auch die schweizerische Öffentlichkeit ins Visier genommen hat, lässt sich mit den vorhandenen Informationen nicht mit Sicherheit sagen. Die USA sind einer der wichtigsten Handels- und Sicherheitspartner der Schweiz. Wird das Vertrauen unter den beiden Partnern gestört, nützt dies den Interessen Moskaus: vor allem, was die Sanktionen und die Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen die russische Besetzung betrifft.

Der Diskurs um die Neutralität ist für den Kreml ein willkommenes Vehikel zur Beeinflussung der Schweizer Politik. Bis über den Kalten Krieg hinaus akzeptierte Moskau, dass der Bundesrat den neutralen Status als Maxime verstand und als sicherheitspolitisches Instrument flexibel einsetzte – je nach Bedrohungs- und Interessenlage.

Dieses Verständnis änderte sich erst nach dem russischen Überfall auf die Ukraine: Weil der Bundesrat die EU-Sanktionen übernommen hatte, setzte Moskau die Schweiz auf die Liste der «unfreundlichen Staaten». Offenbar war der Kreml nicht darauf vorbereitet, dass die Schweiz den Bruch des Völkerrechts klar verurteilt.

In der Zwischenzeit ist der Bundesrat weniger mutig und hat in seiner Ukraine-Verordnung die militärische Gleichbehandlung von Aggressor und Verteidiger festgeschrieben. Das Seco-Dokument zeigt, dass die Verwaltung trotzdem in Varianten denkt: Der Piranha-Ringhandel über das Baltikum klingt durchaus prüfenswert.

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